Di, 04. Dezember – Ms. Zhang hatte mir angekündigt, dass nachmittags kein Unterricht sein würde wegen eines Vortrags, dem alle Schüler, die Lehrer und sogar die Eltern zuhören würden. Und tatsächlich wurde mittags die Schule herausgeputzt, große rote Banner aufgehängt und als wir nach der Mittagspause vom Essen bei Franzi und Helen zurückkamen, war der Schulhof bereits prall gefüllt. Klassenweise sortiert saßen die Eltern auf Bänken, auf kleinen Hockern daneben ihre Kinder. Wir setzten uns mit Xiong Fei und ein paar anderen Lehrerinnen dahinter und erwarteten gespannt den Redner. Der wurde dann von unserer stellvertretenden Schulleiterin Ms. Li groß angekündigt als ein in ganz China bekannter Lehrer für 感恩。Was das heißt, erfuhren wir in den folgenden zwei Stunden, soviel vorweg: 感恩 bedeuted Dankbarkeit, in diesem Falle insbesondere Dankbarkeit der Kinder gegenüber ihren Eltern.

Nun war der Redner an der Reihe: Untermalt von stets zu seinen Worten passender Musik hieß er die Kinder willkommen und stellte ihnen zunächst ein paar Fragen der Art „Seid ihr gute Kinder? Wenn ja, streckt beide Hände in die Höhe“. Dann begann er Beispielgeschichten zum Thema 感恩 zu erzählen, wobei er schon nach wenigen Minuten von seinen eigenen Worten zu Tränen gerührt schien. Einige darin vorkommenden Charaktere waren: einer seiner Zuhörer, der seinen Eltern zehn Prozent seines Einkommens zukommen ließ, was diese jedoch für ihre Enkelkinder aufsparten und am Totenbett ihrem Sohn zurückgaben. Oder ein Findelkind, dass von einem sehr armen Ehepaar großgezogen wurde. Als dann auch noch der Vater starb, kümmerte sich die Mutter alleine um die gefundene Tochter, verausgabte sich von früh bis spät um dem Kind eine Bildung zu ermöglichen, bis sie eines Abends nicht nach Hause kam. Das kleine Mädchen lief daraufhin durch die Straßen, nach seiner Mama schreiend, während ein Gewitter aufzog und Regen auf sie niederprasselte. Plötzlich sah es vor sich eine dunkle Gestalt im Straßengraben liegen und mit Entsetzen erkannte es, dass das seine geliebte Mutter war. „Mama!“, schrie das Mädchen, „Liebe Mama! Schlaf doch nicht hier! Komm, wir gehen nach Hause!“ Die Mutter kam beim Klang dieser vertrauten Stimme wieder zu Sinnen, mit sterbender Stimme flüsterte sie, „Es tut mir Leid, ich kann nicht mehr. Jetzt bist du alleine auf dieser Welt…“  Und mit letzter Kraft streckte sie die rechte Hand aus, in der sie einen kleinen Kuchen, ein Geschenk für ihre Tochter, umklammert hielt. Weinend kniete diese neben ihr nieder und bat sie wieder und wieder: „Geh nicht, Mama! Ich brauche dich!“ Plötzlich bemerkte sie, dass ihre Mutter auch in der linken Hand etwas hielt, einen Zettel, einen.. Blutspendeschein! Und die schreckliche Wahrheit begann ihr zu dämmern, dass nämlich ihre Mutter, um ihr die Schule und Kleidung, Essen und ein Bett zu ermöglichen, ihr eigenes Blut aus ihrem durch Hunger und harte Arbeit geschwächten Körper, ihr eigenes Leben verkauft hatte. Als die Geschichte mit diesen Worten in einem Lied abschloss war bereits die Hälfte der Kinder und auch viele Erwachsene am Weinen.

Klatschende Schüler

Und damit nicht genug: Nun sollten die Schüler aufstehen, die Hand ihrer Eltern nehmen und sich überlegen, wie hart diese für sie gearbeitet hatte, was für Entbehrungen und Mühen die Eltern für sie auf sich genommen hatten. Und hatten sie ihnen jemals dafür gedankt? Hatten sie jemals ein einfaches „Papa, Mama, ich liebe euch!“ über die Lippen gebracht, fünf einfache Worte, auf die die Eltern so lange gewartet und gehofft hatten? „Nein!“ schmetterte er ihnen entgegen. Und ließ die Kinder zehnmal im Chor rufen „Papa, Mama, ich liebe euch!“, wobei er das Mikrofon einer vorderen Schülerin hinhielt, die schluchzend die Worte stammelte. Und so ging es weiter: Den Großeltern wurde gedankt, den Lehrern, außerdem suchte er einzelne Schüler heraus, die vor der ganzen Schule bekennen mussten, wie undankbar sie sich bisher verhalten hatten und so lange ihr mitgekommenes Elternteil rufen mussten, bis dieses nach vorne kam und ihm vergab.

Was dem Ganzen dann den Deckel aufsetzte war, dass er gegen Ende der Prozedur alle Eltern aufstehen ließ und nach hinten gehen ließ, wo an zwei Tischen Lernbücher für Dankbarkeit verkauft wurden, soweit wir das sehen konnten für 50 Yuan das Stück. Das sollten sie kaufen und ihrem Kind schenken… Wir beobachteten eine Frau, deren Kind immer sehr ärmlich und abgerissen wirkt, wie sie sich bei den Umsitzenden Geld für diese Anschaffung borgte, so groß war der Druck, dieses Buch zu kaufen. Als die Veranstaltung nach zwei Stunden vorbei waren, gingen wir nach Hause und dachten uns, wie krass das alles war. Ein Vortrag der darauf ausgelegt war, alle Kinder zum Weinen zu bringen und sich elend zu fühlen? Auch wenn das sicher eindrücklich für sie war, ist das die richtige Methode, ihnen Kindesliebe und Dankbarkeit beizubringen? Jedenfalls war es wohl für alle besser, dass der nächste Tag nicht mit normalem Unterricht wartete, sondern mit einem großen Event: dem Sportfest!

One Response so far.

  1. Robert sagt:

    Das sind ja wirklich Drückermethoden; erst den Leuten ein schlechtes Gewissen machen, damit man ihnen dann ein überteuertes Büchlein verkaufen kann. Für 50 CNY bekomme ich in einem einfachen Restaurant Essen für 5 Leute.

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